Der Verschwörungsmythos von Tartaria und der sogenannten Schlammflut ist eine relativ neue, aber dennoch weit verbreitete Idee in einigen Online-Communitys und Foren. Er basiert auf der Vorstellung, dass es vor Jahrhunderten eine hochentwickelte Zivilisation namens Tartaria gegeben haben soll, die auf dem Gebiet des heutigen Russlands und Zentralasiens ansässig war. Diese Behauptung unterscheidet sich grundlegend von der historischen Bezeichnung Tartarei, die im 18. Jahrhundert für bestimmte Gebiete Russlands verwendet wurde.
Die Grundannahmen der Theorie
Laut den Anhängern verfügte Tartaria über erstaunliche Technologien und architektonische Meisterwerke, die weit über das hinausgingen, was in der damaligen Zeit anderswo existierte. Die Theorie behauptet, dass diese Zivilisation im 19. Jahrhundert durch eine Naturkatastrophe – die sogenannte „Schlammflut“ – ausgelöscht wurde. Diese Katastrophe soll nicht nur Tartaria zerstört haben, sondern auch aus den Geschichtsbüchern entfernt worden sein, angeblich durch eine Verschwörung, um die wahre Geschichte der Menschheit zu verschleiern.
Befürworter der Theorie gehen sogar so weit, zu behaupten, dass viele architektonische Wahrzeichen heutiger Städte – darunter prächtige Gebäude und Monumente – in Wirklichkeit von Tartaria erbaut worden seien. Diese Bauwerke, so die Theorie, würden jedoch von Regierungen und „geheimen Eliten“ als Teil einer globalen Täuschung unter einer anderen Identität präsentiert.
Ursprung und Verbreitung des Mythos
Die Wurzeln der Theorie lassen sich auf Anatoly Fomenkos „Neue Chronologie“ 1 zurückführen, eine pseudowissenschaftliche Arbeit, die historische Ereignisse und Chronologien radikal umdeutet. Fomenko behauptete, dass große Teile der bekannten Geschichte verfälscht oder manipuliert seien. Später wurde der Tartaria-Mythos durch die Werke des russischen Schriftstellers Nikolai Levashov weiter verbreitet, der behauptete, Tartaria sei der „wahre“ Name Russlands und der Westen habe absichtlich alle Spuren dieser Zivilisation ausgelöscht.
Ab etwa 2016 begannen diese Ideen im englischsprachigen Internet unabhängig von ihrem ursprünglichen russisch-nationalistischen Kontext populär zu werden. Plattformen wie YouTube, TikTok und diverse Online-Foren trugen erheblich zur Verbreitung der Theorie bei. Besonders in Deutschland gewann der Mythos um 2020 an Bekanntheit, vor allem durch kurze Videos, die vermeintliche Beweise für Tartaria präsentierten.
Die Schlammflut und die alternative Architekturgeschichte
Ein zentrales Element der Tartaria-Verschwörung ist die sogenannte „Schlammflut“. Die Anhänger behaupten, dass eine globale Katastrophe große Teile der Erde mit Schlamm bedeckt und dabei viele historische Bauwerke zerstört oder begraben habe. Als vermeintliche Beweise führen sie Gebäude an, deren untere Stockwerke oder Eingänge unter dem heutigen Bodenniveau liegen.
Zusätzlich wird eine alternative Sichtweise der Architekturgeschichte vertreten. Prunkvolle Gebäude wie das Singer Building, die ursprüngliche New Yorker Penn Station oder die Ausstellungspavillons der Weltausstellung von 1915 werden als Werke der angeblichen tartarischen Hochkultur interpretiert. Selbst antike Bauwerke wie die Pyramiden oder moderne Wahrzeichen wie das Weiße Haus werden in diese Theorie eingebunden. Die zeitlichen und kulturellen Unterschiede zwischen den Gebäuden werden dabei ignoriert.
Fehlende wissenschaftliche Basis und die Verbreitung von Fehlinformationen
Es gibt keinerlei wissenschaftliche Beweise für die Existenz einer Zivilisation namens Tartaria oder für eine globale Katastrophe wie die Schlammflut. Vielmehr stützt sich der Mythos auf Fehlinformationen, falsch interpretierte historische Quellen, und manipulierte Bilder. Besonders häufig werden durch künstliche Intelligenz erzeugte oder aus dem Kontext gerissene Fotos als „Beweise“ herangezogen.
Wissenschaftler und Historiker weisen darauf hin, dass viele der angeführten „Anomalien“ – wie unterirdische Gebäudestrukturen – leicht durch bekannte historische, geologische oder bautechnische Prozesse erklärt werden können. Tatsächlich handelt es sich bei vielen dieser Gebäude um Überreste historischer Bauweisen, bei denen Stadtentwicklungen über Jahrhunderte hinweg das Bodenniveau angehoben haben.
Fazit: Ein moderner Mythos ohne Substanz
Der Tartaria-Mythos ist ein Beispiel für die Verbreitung von pseudowissenschaftlichen Theorien, die oft aus einem Mangel an historischem Wissen oder einem Misstrauen gegenüber etablierten Institutionen resultieren. Die globale Popularität dieser Theorie zeigt jedoch, wie leicht sich Desinformation in der heutigen digitalen Ära verbreiten kann, insbesondere wenn sie mit ansprechenden Bildern und narrativen Elementen kombiniert wird.
Letztendlich dient der Tartaria-Mythos weniger als ernsthafte historische These und vielmehr als Spiegel der wachsenden Skepsis gegenüber wissenschaftlichen und institutionellen Autoritäten in der modernen Gesellschaft.
Siehe auch:
Tartaria Schlammflut: St. Mary Magdalene Omaha, Nebraska
Fomenko A. T. History Fiction or Science?: Chronology 1-6. Delamere 2006. ↩