Der Kensington-Runenstein – Wikinger oder moderner Scherz?

Der sogenannte Kensington-Runenstein ist eines der kontroversesten Artefakte in der Geschichte der präkolumbianischen Entdeckungen Nordamerikas. Im Jahr 1898 stieß der schwedische Einwanderer und Farmer Olof Ohman auf den Stein in der Nähe der Stadt Kensington in Minnesota, USA. Der graue Sandsteinblock wiegt etwa 92 Kilogramm und enthält eine lange Inschrift in Runenschrift, die auf den ersten Blick auf eine nordische Expedition im Jahr 1362 verweist.

Text und Übersetzung

Der Text besteht aus neun Zeilen auf der Vorderseite des Steins und drei Zeilen am Rand und lautet wie folgt:

Vorderseite:

 8 : göter : ok : 22 : norrmen : po :
…o : opdagelsefärd : fro :
vinland : of : vest : vi :
hade : läger : ved : 2 : skjär : en :
dags : rise : norr : fro : deno : sten :
vi : var : ok : fiske : en : dagh : äptir :
vi : kom : hem : fan : 10 : man : röde :
af : blod : og : ded : AVM :
frälse : äf : illü.

„8 Göter [Götaländer, d. h. Schweden] und 22 Norweger auf Entdeckungsfahrt von Vinland nach Westen. Wir hatten Lager bei 2 Schären, eine Tagesreise nördlich von diesem Stein. Wir waren einen Tag lang beim Fischen. – Nachdem wir heimgekommen waren, fanden [wir] 10 Männer rot von Blut und tot. AVM, befreie [uns] von [dem] Übel!“

 

„Acht Goten [Schweden] und 22 Norweger auf Entdeckungsreise von Vinland nach Westen. Wir errichteten ein Lager zwei Tagesreisen nördlich dieses Steins. Wir waren fischen. Eines Tages kehrten wir heim und fanden 10 Männer rot und tot. Ave Maria, rette uns vor dem Bösen.“

Rand:

här : (10) : mans : ve : havet : at : se :
äptir : vore : skip : 14 : dagh : rise :
from : deno : öh : ahr : 1362

Haben 10 Mann am Meer, um 14 Tagesreisen von dieser Insel nach unsern Schiffen zu sehen. [Das] Jahr [ist] 1362.

By Book author: George T. Flom – Foldout illustration to book „The Kensington Rune-Stone : an address“, Public Domain, Link

Hjalmar Rued Holand (1872–1963) war ein junger Amerikaner norwegischer Abstammung, der sich für die These der Entdeckung Amerikas durch die Grænlendingar begeisterte. Den Stein von Kensington betrachtete er als Beweis seiner Theorie und als letztes Zeugnis der verschollenen schwedisch-norwegischen Knudson-Expedition (1355–1364). Er überredete den Farmer Olof Ohman im Jahr 1907, ihm den Stein für 10 US-Dollar zu verkaufen, und veröffentlichte die erste vollständige Übersetzung des Runentextes. Er war es auch, der die beeidete Aussage des Finders veranlasste. Er holte Gutachten über das Alter der Espe, über den Verwitterungsgrad des Steins und der Inschrift ein. Fünfzig Jahre lang verteidigte Holand die Echtheit des Steins von Kensington, und auch andere Gelehrte unterstützten ihn dabei. Heute herrscht allerdings in der Fachwelt Einigkeit darüber, dass der Stein eine plumpe Fälschung ist, um die Entdeckung Amerikas durch Skandinavier zu beweisen.

Zur Echtheit

Früh kamen Zweifel an der Echtheit des Steins auf. Historiker warfen zum Beispiel ein, dass die von der Inschrift geschilderte Szenerie komplett unplausibel sei: Reisende Skandinavier, die inmitten eines fremden Landes entdecken, dass viele ihrer Gefährten erschlagen worden sind, hätten gewiss andere Sorgen gehabt, als aufwändig Runen in einen Stein zu hauen.

Fachgelehrte waren bald der Meinung, dass der Text eine krude Mischung aus skandinavischen Sprachen und Englisch sei, verfasst von jemandem, der keine Kenntnis der altnordischen Sprache besitzt. Olof Ohman, ein einfacher Bauer, der selbst fast keine Schulbildung hatte, besaß allerdings ein schwedisches Handbuch mit dem Titel Der kenntnisreiche Schulmeister, das auch ein unvollständiges Kapitel über Runen beinhaltete, und hier fand sich ein Vaterunser mit der Zeile „und erlöse uns von dem Übel“ in genau der Form, die sich auf dem Stein von Kensington findet. Auffällig ist außerdem die konsequente Missachtung altnordischen Vokabulars, der Syntax, der Grammatik und der Runen­formen. Außerdem finden sich auf anderen Runensteinen keine Kalenderjahre in Ziffern, sondern Regierungsjahre, und Zahlen werden als Wörter ausgeschrieben. Dabei haben inzwischen „alle skandinavischen Runologen und Experten für die Geschichte der skandinavischen Linguistik den Runenstein von Kensington als Fälschung identifiziert“.

Die Argumente für die Echtheit

Befürworter der Authentizität argumentieren, dass der Stein Beweise für eine frühe Wikinger-Expedition in das Landesinnere Nordamerikas liefert. Archäologen und Historiker, die an diese Theorie glauben, weisen darauf hin, dass skandinavische Siedler bereits seit Jahrhunderten Handels- und Entdeckungsreisen unternommen haben, die sie weit über die Küsten von Grönland hinausführen könnten. Der Runenstein könnte Teil einer bislang unbekannten Expedition sein, die tief ins Landesinnere der heutigen Vereinigten Staaten reiste.

Runologen und Linguisten, die die Inschrift untersucht haben, betonen die Möglichkeit, dass die verwendeten Runen tatsächlich älteren skandinavischen Schriftsystemen entsprechen. Befürworter weisen darauf hin, dass bestimmte Runenzeichen und grammatikalische Strukturen zwar ungewöhnlich erscheinen, aber durchaus mit regionalen und historischen Variationen skandinavischer Schriftsprache übereinstimmen könnten.

Ein weiterer Aspekt, der für die Echtheit spricht, ist die Abgelegenheit des Fundorts. Minnesota liegt weit entfernt von den üblichen Handelsrouten der Wikinger, was für manche ein Indiz für eine geplante Entdeckungsreise und nicht für einen einfachen Scherz ist.

Die skeptische Sichtweise

Kritiker hingegen halten den Kensington-Runenstein für einen modernen Scherz, der entweder von Olof Ohman selbst oder einer anderen Person seiner Zeit in Umlauf gebracht wurde. Einige Experten weisen darauf hin, dass die Runeninschrift Merkmale aufweist, die eher mit der modernen schwedischen Sprache des 19. Jahrhunderts als mit mittelalterlichem Altnordisch übereinstimmen. Auch stilistische Ungereimtheiten und ungewöhnliche Runen lassen Zweifel aufkommen.

Linguistische Analysen haben zudem gezeigt, dass einige der verwendeten Runen und Wörter zu jener Zeit in der skandinavischen Welt unbekannt waren oder als Erfindungen moderner Runologen gelten könnten. Besonders der Sprachgebrauch, wie die Zahlenangaben und die Struktur der Runeninschrift, wird von Fachleuten als untypisch für mittelalterliche Inschriften bezeichnet.

Die Historiker und Archäologen, die sich mit dem Runenstein auseinandersetzen, betonen, dass keine weiteren archäologischen Funde den Inhalt der Inschrift stützen. Anders als bei den Überresten skandinavischer Siedlungen in L’Anse aux Meadows in Neufundland gibt es keine glaubwürdigen Beweise für eine nordische Präsenz in Minnesota im 14. Jahrhundert.

Staffan Fridell, emeritierter Professor für Skandinavistik und Sprachwissenschaft der Universität Uppsala hat in einer Untersuchung der Runenformen der Inschrift festgestellt, dass sie aus fünf Quellgruppen aus Schweden bekannt sind. Diese Gruppen beziehen sich auf die Provinzen Dalarna, Hälsingland und Medelpad aus einem datierbaren Zeitraum zwischen 1870 und 1911. Fridell wertet die relative Einheitlichkeit der Runen und die Tatsache, dass keine der Inschriften der Quellgruppen vor 1870 unbekannt sind, als Hinweise darauf, dass die „Kensington-Runen“ um die Mitte des 19. Jahrhunderts gefertigt wurden.

  • Langzweigrunen vom Typ der Wikingerzeit, wie sie (wahrscheinlich) aus der Runenliteratur des 19. Jahrhunderts publiziert wurden („Der kenntnisreiche Schulmeister“) von Carl Rosander von 1857 (und andere).
  • Nachempfundene Runen des „dalecarlischen Typs“.
  • Runen, die neu erstellt wurden nach darlecarlischen Vorlagen, sodass Fridell die Hersteller der Inschrift in der Gemeinde Älvdalen in Dalarna verortete.

Der Kontext der Entdeckung

Der Runenstein wurde zur Zeit einer „Wikingermanie“ in den Vereinigten Staaten entdeckt, als skandinavische Einwanderer stolz auf ihre Herkunft waren und nach Wegen suchten, ihre historische Präsenz in der Neuen Welt zu belegen. Dies könnte den Hintergrund für einen gut gemeinten Scherz oder eine patriotische Fälschung bilden.

Trotz jahrzehntelanger Forschung bleibt die Debatte über den Kensington-Runenstein lebendig. In Minnesota selbst ist der Stein zu einem kulturellen Symbol geworden, das Touristen anzieht und das lokale Geschichtsbewusstsein prägt. Ein Museum in Alexandria, Minnesota, widmet dem Stein eine umfangreiche Ausstellung und zeigt, dass die Faszination für das Artefakt – unabhängig von seiner Authentizität – ungebrochen ist.

Fazit

Ob der Kensington-Runenstein tatsächlich Beweise für die Anwesenheit nordischer Entdecker im Herzen Nordamerikas liefert oder ein moderner Scherz ist, bleibt umstritten. Klar ist jedoch, dass der Stein ein faszinierendes Beispiel für die Auseinandersetzung mit Geschichte, Archäologie und Identität darstellt. Für Befürworter und Kritiker gleichermaßen ist der Kensington-Runenstein ein Symbol dafür, wie historische Entdeckungen kulturelle Narrative prägen und den Dialog zwischen Wissenschaft und Mythos befeuern können.

Die Aufschrift gibt vor, eine Aufzeichnung zu sein, die von skandinavischen Entdeckern im 14. Jahrhundert hinterlassen haben.